Meine heutige Geschichte aus dem Nähkästchen kommt aus den Nordosten Italiens, genauer gesagt aus Vicenza. Die rund 100.000 Einwohner zählende Stadt liegt in der Region Venetien und ist bekannt für ihre wunderschönen Bauwerke im Renaissance-Stil.
In dieser Stadt, die laut Wikipedia zu den reichsten Kommunen Italiens gehört, besuchte ich vor einigen Jahren die örtliche Gemeinde der Waldenser- und Methodistenkirche. Mit 47.5000 Mitgliedern bildet diese Kirche eine kleine evangelische Minderheit in dem vorwiegend römisch-katholisch geprägten Italien. Eine weitere italienische Besonderheit ist, dass die Waldenser seit 1979 zusammen mit den Methodisten eine gemeinsame Kirche bilden.
Geflüchteten-Projekt „Mediterranean Hope“
Die Entstehungsgeschichte der Waldenser-Kirche ist zweifellos spannend und erstreckt sich nicht nur auf Italien. Wer mehr über diese Kirche wissen will, kann sich hier oder hier informieren. Mein Interesse galt unter anderem dem Projekt „Mediterranean Hope“, das die Waldenser gemeinsam mit der katholischen Gemeinschaft Sant’Egidio für Geflüchtete ins Leben gerufen hatten. Durch sogenannte humanitäre Visa werden Flüchtlinge sicher und legal nach Italien gebracht. Finanziert wird diese Arbeit durch das Geld, das die Waldenser-Kirche über die Mandatssteuer einnimmt. 600.000 Italiener – viel mehr, als die Kirche selbst Mitglieder hat – entscheiden sich regelmäßig dafür, mit acht Promille (otto per mille) ihres Steueraufkommens, die Projekte der Waldenser zu unterstützen. Die Evangelische Waldenser-Kirche sieht ihre Aufgabe auch darin, die neuen Mitbürger bei der Integration in Italien zu helfen. Viele Migranten haben sich mittlerweile den Waldenser-Gemeinden angeschlossen; die meisten von ihnen stammen aus Afrika oder Fernost.
Italien – Sehnsuchtsland für Geflüchtete
War Italien lange Zeit ein klassisches Auswanderungsland, so änderte sich dies in den 1980er Jahren mit dem Zustrom von Menschen aus Eritrea und Ghana, die auf der Suche nach Arbeit in das nächstliegende EU-Land kamen. Während Deutschland diese Entwicklung damals ignorierte, galt in Italien lange Zeit die Devise, wer Arbeit hatte, durfte bleiben. Erst 1989 erhielt Italien ein Einwanderungsgesetz. Die weltweite Finanzkrise in 2008 verschärfte die wirtschaftliche Situation in vielen afrikanischen Ländern. Bis heute versuchen immer mehr Menschen ihrer verzweifelten wirtschaftlichen Lage zu entkommen, indem sie die lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer antreten. Jährlich ertrinken Tausende Menschen auf der Mittelmeer-Überfahrt zwischen Afrika und Europa. Die Waldenser-Kirche beobachtet die Situation auf Lampedusa sehr genau. Sie hat zudem ein kleines Empfangszentrum eingerichtet und begleitet die Neuankömmlinge auf ihrem Weg durch die Institutionen. Darüber hinaus engagiert sich die evangelische Kirche auf politischer Ebene, zum Beispiel für die Anwendung von humanitären Ausnahmeregelungen. „Mediterranean Hope“ zielt letztlich auch darauf ab, eine konzertierte Hilfsaktion innerhalb der italienischen Zivilgesellschaft in Gang zu setzen. Dies ist zweifellos eine große gesellschaftliche Aufgabenstellung für die kleine Waldenser-Kirche im Norden Italiens.
Multi-ethnische Ortsgemeinden
Und wie wirkte sich diese Entwicklung auf die Ortsgemeinden aus? Die waldensischen Ortsgemeinden wie in Vicenza und Verona verfolgen einen bemerkenswert pragmatischen Ansatz. Sie sind mit den mehrheitlich ghanaischen Gemeindegliedern heute längst zu multi-ethnischen Gemeinden gewachsen. Ihre Erfahrungsberichte zeigen aber auch, dass der Weg dorthin ein langwieriger und für alle Beteiligten anstrengender Prozess mit ungewissem Ende ist. Unterschiede in der Spiritualität, den Wertvorstellungen, aber auch in den Erwartungen an den Pfarrer, den Gottesdienst und nicht zuletzt sprachliche Hürden führen vor allem in der Anfangsphase zu Spannungen.
Ein Gottesdienst – zwei Kulturen
Bei meinem Besuch eines waldensischen Sonntagsgottesdienstes erlebte ich, wie schwierig es sein kann, zwei völlig unterschiedliche Kulturen unter dem evangelischen Dach zu vereinen. Der Gottesdienst bestand im Grunde genommen aus zwei Teilen: Von 10 Uhr bis 11 Uhr gab es den italienischen Teil mit vielen alten europäischen geistlichen Liedern, einer sachlichen Predigt und einem vornehmlich älteren zurückhaltenden Stammpublikum. Gegen 11 Uhr änderte sich jedoch das Bild: Immer mehr ghanaische Familien füllten den Gottesdienstraum, der sich in einem Bürogebäude am Rand von Vincenza befand. Frauen in bunten Kleidern mit lässig gewickelten Tüchern auf dem Kopf kamen in den Raum und stellten große Teller mit Essen auf die vielen Tische. Ihre Männer trugen Flaschen und Kanister mit Limonade, Wasser oder Tee herein und stellten diese zu den Tellern. Mit ihnen kamen die Kinder, sie trugen offensichtlich Sonntagskleidung und spielten aufgeregt im Eingang und auf dem Flur. Die aufgekommene Lautstärke und Unruhe legten sich wieder, als sich ein afrikanischer Pfarrer zu seinem italienischen Kollegen gesellte. Aber die neue Fröhlichkeit blieb. Jetzt wurde im Gottesdienst laut gesungen, gelacht und sogar getanzt. Die Kollekte wurde in großen geflochtenen Körben, die auf dem Kopf getragen wurden, eingesammelt. Und auch die italienische Minderheit hatte ganz offensichtlich Spaß an der neuen Lebendigkeit. Nach dem Gottesdienst wurden die Stühle und Tische zusammengeschoben und man setzte sich zum gemeinsamen Essen und für Gespräche zusammen. Das war zweifellos ein schönes Erlebnis, aber eine transkulturelle Transferleistung beispielsweise mit Blick auf die Liturgien oder Predigt fand hier nicht statt. Es war ein Gottesdienst mit zwei Kulturen.
Kulturelle Unterschiede in der Theologie
Obwohl ihre Zahl wächst, wird bei einem Blick auf die aktuelle Website der Waldenser-Kirche deutlich, dass die Gemeindeglieder mit Migrationshintergrund bis heute nicht in den einflussreichen Leitungsgremien der Kirche vertreten sind. Die Frage danach, inwieweit sich die Theologie ändert, wenn Migranten die Mehrheit in den Leitungsgremien stellen, konnten die Theologen der Waldenser-Kirche nicht abschließend beantworten. Zwei Beispiele für kontroverse theologische Auffassungen wurden während meines Besuches thematisiert: 1. Die Synode der Waldenser hat im Jahr 2010 beschlossen, die Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften zu ermöglichen. Diese Praktik wird von den afrikanischen Gemeindegliedern aber oftmals abgelehnt. 2. Ein weiterer gravierender kultureller Unterschied bezieht sich auf die Erwartung an den Pfarrer zur Befreiung von „bösen Geistern“. Diese Praktik wird indes von den italienischen Gemeindegliedern mehrheitlich abgelehnt. Ein gemeinsames theologisches Fundament oder eine schriftliche Grundlage für die theologische Entwicklung hin zu einer multi-ethnischen und multikulturellen Kirche gab es hier nicht. Die gemeinsame Ausarbeitung einer theologischen Grundlage für die multikulturelle Gemeindeentwicklung wäre übrigens eine spannende Aufgabe für ein transkulturelles Coaching.
Trotz der genannten Kontroversen hatten alle Beteiligten aber das Grundverständnis dafür, gemeinsam Kirche sein zu wollen und sich dafür zu engagieren. In der Schlussbetrachtung werteten die Waldenser ihre multi-ethnischen Gemeinden durchaus als Win-Win-Projekt: Den ghanaischen Gemeindegliedern gelingt zumeist eine bessere Integration in die italienische Gesellschaft als anderen Geflüchteten, während die überalterten Kerngemeinden mit dem Zuzug junger Familien eine Überlebenschance bekommen.
Es bleibt abzuwarten, ob in einigen Jahrzehnten eine ähnliche Entwicklung auch in den evangelischen Landeskirchen in Deutschland einsetzen wird…
Es grüßt Euch herzlich
Martina Pauly